Die  M o t i v a t i o n

Als mein Vater vor einiger Zeit in seinen wohlverdienten Ruhestand eintrat, war ich gespannt, wie er wohl dieses neue Kapitel gestalten würde. Ich fragte mich, welche Hobbies ein Mann in seinem Alter entwickeln würde, der knapp 40 Jahre im Wechselbetrieb zwischen Früh- und Spätschicht arbeitete. Ich überlegte mir, welche Seiten der VHS-Programmbroschüre wohl unauffällige Eselsohren als Marker bekommen würden. Ich stellte fest, dass er leider keine nennenswerten Hobbies entwickelte und sich stattdessen eher einem, aus meiner Sicht, weniger anspruchsvollen Leben widmete. Dem wollte ich entgegen wirken; ich wollte ein wenig die Erinnerung an den Mann konservieren, den ich als kleines Kind immer als Vorbild nahm. Als Kind schaut man immer zum Vater auf und weiß, dass dieser Mann auf jede Frage die eine richtige Antwort hat, auch wenn der Vater in den 60er-Jahren nach der Grundschule nie eine höhere Schule besuchte und im frühen Alter bereits zu arbeiten begann. Wenn dieses Kind nun jedoch erwachsen wird, findet zeitgleich mit seiner neu gefunden Unabhängigkeit auch ein imaginärer Abnabelungsprozess und somit entscheidender Schritt statt: man beginnt das Verhalten und Handeln des Vaters zu hinterfragen. Ab diesem Zeitpunkt werden die Augenblicke immer seltener, in denen man bei seinem Vater Rat sucht und diesen auch findet, da man eine eigene Sicht vom Leben und dessen Herausforderungen bekommt. Was wäre nun, wenn zwei erwachsene Männer ein letztes mal als Team gemeinsam ein großes Abenteuer starten? Das Abenteuer sollte uns beide komplett aus der Komfortzone heben, die jeder von uns langsam auf der Suche nach Stabilität in seinem Leben geschaffen hatte. Es sollte ein Abenteuer sein, dessen Rahmenbedingungen im Groben geplant werden können, aber das Abenteuer an sich unvorhersehbar bleibt. Es sollte aber auch eine völlig neue Perspektive auf ein Vater-Sohn-Verhältnis ermöglichen. Ich wollte im Rahmen dieses Abenteuers erleben, wie es wohl ist, wenn Vater und Sohn gemeinsam Herausforderungen meistern. Es sollte eine Erfahrung sein, in der beide sich gleichermaßen einbringen können, man aber als Sohn trotz allem zu seinem Vater hinaufschaut. Vor längerer Zeit hatte mir ein Freund von der Allgäu Orient Rallye berichtet und ich hatte mir begeistert die Geschichten über das Erlebte angehört. Da mein Vater und ich ein Faible für die Natur haben und uns schon immer mal beispielsweise Skandinavien anschauen wollten, wurde ich auf den Baltic Sea Circle aufmerksam.   Die Baltic Sea Circle-Rallye umrundet innerhalb von 16 Tagen die komplette Ostsee. Zwischen dem Start- und Zielpunkt Hamburg liegen 7.500km Wegstrecke, die ohne ein Navigationsgerät und Autobahnnutzung mit einem Zwischenstopp am Nordkap befahren werden müssen. Klingt auf den ersten Blick machbar – wenn man aber auf einer völlig unbekannten Route das erste mal unterwegs ist, erkennt man sehr schnell die Lücke, sobald das Navigationsgerät mit einer leicht-überheblichen Tonlage mal einfach -nichts- sagt. Spätestens dann beginnt man zu überlegen „…Moment! ich komme gerade aus dem Norden! Stuttgart steht noch nicht auf den Schildern, aber München ist ja auch im Süden, also passt eigentlich München ganz gut. Ich fahre jetzt einfach mal… und irgendwann wird wohl bestimmt Stuttgart oder Karlsruhe oder Basel dran‘ stehen“. Wenn nun der eine oder andere Leser bei dem Begriff ‚Rallye‘ an wildgewordene und dem Benzinrausch verfallene Fahrer in spartanisch ausgestatteten Autos mit heulenden Motoren, die einem Rasenmäher gleichen, denkt, so kann ich euch beruhigen. Bei unserer Rallye handelt es sich mehr um eine Kaffeefahrt (ohne Heizdecken-Verkauf) mit diversen Aufgaben, als um eine Rennveranstaltung mit waghalsigen Manövern durch dicht bewachsene Wälder. Diese Art von Rallye bringt ganz andere Herausforderungen mit sich, die sich bereits in der Vorbereitung als anspruchsvoll für den „Otto-Normal-Bürger“ erweisen. Diese Herausforderungen werde ich in diesem Blog Tag-um-Tag näher erläutern und euch somit an unserem Abenteuer teilhaben lassen. Wir wünschen euch viel Spaß auf unserem Blog zum Baltic Sea Circle 2018 – eines der größten Abenteuer, wenn nicht das größte zwischen einem Vater und seinem Sohn. Hüseyin und Ilhan Ercan

Das  T e a m

Unser Team besteht aus Hüseyin (Vater) und Ilhan (Sohn), die auf der Suche nach einem unvergesslichen und atemberaubenden Abenteuer sind. Entstanden ist diese Idee ursprünglich durch Ilhans Gedanken an einen gemeinsamen Angelausflug zwischen Vater und Sohn, wie man es aus unzähligen kitschigen amerikanischen Filmen der 90er Jahre kennt. Ihr wisst schon, Filme, in denen Vater und Sohn mit einer super-teuren Anglerausrüstung an einem See sitzen, zum Sonnenuntergang das 4. Bier trinken, der Vater dem Sohn die Welt erklärt und der Sohn plötzlich fast schon eine Eingebung hat, er verstehe jetzt endlich das Geheimrezept eines glücklichen und zufriedenen Lebens. Neben der Tatsache, dass Ilhan sich nicht sicher war, ob die beiden wirklich so viel Spaß beim Angeln haben könnten (zumal Hüseyin kein Bier trinkt), gab es noch einen weiteren Haken: Hüseyin hat leider keinen Angelschein, würde sich jedoch alle dazu gehörenden Maßnahmen wie das Töten oder Ausnehmen des Fisches zutrauen. Außerdem spricht er zwar Deutsch, kommt aber aus einer Zeit, in der nahezu alle Gastarbeiter sagten „lass uns lieber Geld verdienen und bald wieder in die Türkei zurück gehen, damit wir dort eine Existenz aufbauen können.“ Da es aber zum Erlangen eines Angelscheins weit bessere Sprachkenntnisse als die täglichen Floskeln erfordert, würde Hüseyin der Angelschein verwehrt bleiben.

Ilhan hingegen verfügt über die sprachlichen Kenntnisse, einen Angelschein in der Theorie zu erlangen; der praktische Prüfungsteil wird für ihn vermutlich immer unerreichbar bleiben, da er weder ein Lebewesen töten, noch ausnehmen kann.

Aus diesem Grund kam die Geschichte des Bekannten von Ilhan über den Baltic Sea Circle genau zur richtigen Zeit und wurde somit zur Alternative zu einem Angelausflug. Zugegebenermaßen ist der zeitliche Aufwand zwischen einem halbtägigen Angelausflug und einer zweiwöchige Rallye nicht miteinander vergleichbar, aber sie dachten sich schlicht und ergreifend „Why NOT!?“.

Name: Ilhan Dogan Ercan

Alter: 35

Familienstand: Ledig

Funktion: Teamchef

Beruf: Ingenieur

Hobbies: Freunde, Reisen, Lesen

Ilhan kam 1983 als letztes der drei Kinder von Hüseyin und Sehriban zur Welt. Er hat nach seinem Studium bei der Daimler AG in der Getriebesteuergeräte-Entwicklung für LKWs angefangen. Da er ledig ist, kann er sich auch solche große Abenteuer ohne viel Abstimmungsaufwand erlauben.

Name: Hüseyin Ercan

Alter: 68

Familienstand: Verheiratet, 3 Kinder

Funktion: Teamkollege

Beruf: Rentner

Hobbies: Familie, Reisen, Freunde

Nach seiner Ankunft in Deutschland in den 70er Jahren war Hüseyin bis zuletzt als Fabrikarbeiter tätig bevor er in seinen wohlverdienten Ruhestand verabschiedete. Mittlerweile genießt er sein Rentnerdasein und verbringt den Tag mit weniger spektakulären Dingen. Auch wenn hierzulande die Meinung verbreitet ist, die türkischen Männer hätten das Sagen im Haus, so sei an dieser Stelle angemerkt, dass ohne die freundliche Unterstützung von Hüseyin‘s Frau Sehriban dieses Abenteuer nicht so einfach umzusetzen gewesen wäre. Lieben Dank an Sehriban!

Das  A u t o

Auch wenn die Wahl des Fahrzeugs mit einigen Reglementierungen verbunden ist, so war uns beiden trotz allem wichtig, ein entsprechendes Fahrzeug zu finden, das auch unsere wichtigsten Bedürfnisse abdeckt. Hinzu kam noch die Tatsache, dass jeder von uns individuelle Vorstellungen von unserem Rallye-Auto hatte.

Die Suche nach dem richtigen Auto: Das Reglement schreibt vor, dass das Fahrzeug mind. 20 Jahre alt sein muss und in der Anschaffung nicht 2.500 Euro übersteigt.

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Für meinen Vater und mich war es wichtig, dass es sich bei dem Fahrzeug um einen Mercedes handelt. Unser beider Herzen schlagen für Mercedes-Benz!

Wieso? Als mein Vater und meine Mutter 1972 als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kamen, war ein „Benz“ das Maß aller Dinge.

Es gab Anfang der 90er Jahre einen türkischen Film über einen Gastarbeiter und seinen Mercedes. In diesem Film teilt sich der Schauspieler Ilyas Salman mit seinem goldenen Mercedes die Hauptrolle. Auch wenn die Geschichte in dieser Komödie eine etwas überraschende, fast schon tragische Wendung nahm, so hat in diesem Film die Marke Mercedes-Benz die damalige Generation mit seiner Zuverlässigkeit, dem Luxus und dem Anspruch nach Vollkommenheit maßgebend geprägt; auch meinen Vater.

Neben dem Ziel, all seinen Kindern eine gute Ausbildung und Zukunft zu ermöglichen, hatte mein Vater immer diesen einen Traum, eines Tages im Mercedes-Benz Kundencenter einen fabrikneuen Mercedes in Empfang zu nehmen. Im Dezember 1999 war es dann endlich soweit! Nachdem unsere Eltern durch jahrelanges sparen meinen Geschwistern und mir eine vernünftige Ausbildung ermöglicht hatten, sollte sich mein Vater diesen einen Kindheitstraum erfüllen. Er hatte sich damals einen E270 CDI (W210) konfiguriert und bestellt, den er dann in Sindelfingen im Kundencenter mit meiner Mutter in Empfang nahm. Die ganze Familie hatte einige Jahre ihre Freude an dem Auto, bis wir eines Wintertages leider mit dem Fahrzeug einen Unfall hatten. Bei dem Unfall waren mein Vater und ich gerade auf unserem Heimweg, als wir auf einer mit schneebedeckten Landstraße von der Fahrbahn abkamen, die Böschung hinunter fuhren und frontal gegen einen Baum krachten. Ohne weiter die Gegebenheiten hier zu beschreiben kann ich sagen: Heilig’s Blechle! Was für ein sicheres Auto! Das Fahrzeug war nach dem Unfall ein Totalschaden, aber der Stern stand wie eine „1“ senkrecht auf der Haube, als wäre der Wagen im Rahmen einer Sicherheits-Werbekampagne für einen Mercedes gecrasht worden.

Zu diesem Zeitpunkt war bereits die neue E-Klasse in Serie und so entschied sich mein Vater nach einer kurzen Bedenkzeit die alte E-Klasse (W210) durch die neue E-Klasse (W211) zu ersetzen. Mein Vater blieb dabei dem Modell E270 CDI treu, aber die Erinnerungen an die erste eigene fabrikneue E-Klasse blieben wie Erinnerungen an die erste große Liebe bestehen. So kam es dazu, dass nun für die Rallye das Auto eine E-Klasse der Baureihe 210 sein musste. (Kurze Anmerkung: nachdem sich meine Eltern 2013 einen GLK gekauft hatten, schenkten sie mir den W211, mit dem ich heute noch zufrieden mit all den Erinnerungen herumfahre).

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Zuguterletzt hatte ich selbstverständlich auch noch Ansprüche an das Auto. Mein Wunsch war es, ein Auto mit möglichst viel Hubraum und vielen Zylindern auf diese Reise mitzunehmen. Man hört das ja immer wieder, insbesondere von Männern, dass sie bereit sind, bei einem Auto mit ordentlicher Motorisierung abstriche in der Austattungsliste zu machen. Doch, warum ist das eigentlich so?  In meinem Fall lassen sich die Beweggründe am einfachsten mit einem Blick in meine Vergangenheit, angefangen vom Kindesalter bis zum Studium, verdeutlichen. Als ich damals ein Kind war hatten meine Eltern ausnahmslos ein Auto aus dem Hause Opel vor der Türe stehen (Fun-Fact: Weil in unserem näheren Umkreis damals ein Opel ein gängiges Auto war, dachte ich als Kind immer, Opel wäre ein türkisches Fabrikat). Es war der Standard: 4 Zylinder, 8 Ventile, 75 PS, nichts drin. In der damaligen Zeit gab es noch nicht die Kommunikationsmöglichkeiten, wie wir sie heute kennen. Damals war es Gang und Gäbe, dass man zu verlängerten Wochenenden oder Ferien quer durch Deutschland fuhr, um die Verwandtschaft zu besuchen und somit die Kontakte zu pflegen. Daher haben wir viel Zeit in unseren Autos verbracht, sei es eine Fahrt zu Bekannten nach Berlin, München oder wenn es ganz dumm lief, ein 6-wöchiger Urlaub in die Türkei.

Zu dem damaligen Zeitpunkt gab es keine Smartphones oder Sonstiges; das einzige, was evtl. in Frage gekommen wäre, waren Gameboys – aber die waren natürlich zu teuer. Somit musste man lernen sich die Zeit im Auto irgendwie totzuschlagen, während im Kassettendeck eine türkische Kassette eingelegt war, die nicht zur Entspannung der Situation beitrug. Ich musste also einen Weg finden, den Sitzplatz hinter dem Beifahrer in meine eigene kleine „Business-Class“ zu verwandeln – man musste sich als Kind noch selbst beschäftigen! Zwar hatte ich, wie bereits erwähnt, keine elektrischen Wegbegleiter, aber ich fand einen Weg, mir die Zeit mit ein wenig Kreativität und Phantasie zu vertreiben! In unserer Freizeit spielte ich mit meinen Freunden oft Auto-Quartett oder Supertrumpf. Ohne zu wissen, was eigentlich alle Attribute in dem Spiel bedeuteten, war uns immer klar: je mehr desto besser! Die Höchstgeschwindigkeit und die Leistung konnten wir zumindest zuordnen. Da gab es einige Karten, die Höchstgeschwindigkeiten jenseits der 220km/h-Marke hatten.

Es war immer wieder ein Feuerwerk der Gefühle, wenn man eine Karte von einem hochmotorisierten Auto in der Hand hielt und der Spielgegner voller Überzeugung und fast schon überheblich sagte „BMW 850i, Höchstgeschwindigkeit 250km/h“ und es voller Aufregung aus einem herausschoss „Benz C112, 300km/h!!!“. Und so hatte die Top-Karte A1, der Mercedes-Benz, den Spieler zu dem einen oder anderen ruhmreichen und triumphierenden Sieg verholfen.

Irgendwann kam die Zeit als wir Kinder begannen, die Vergleiche über unsere Väter und deren Autos machten. „Mein Vater ist letztens auf der Autobahn ungefähr 200 gefahren! Wir waren die Schnellsten. Da war nur noch ein Porsche, der uns nur schwer überholen konnte.“ – als ob! Keiner der Väter von uns türkischen Kinder hat jemals ein Auto über 4 Zylindern besessen!

Aber nun gut, als Kind willst du natürlich deinem Vater in diesem Battle zu neuem Ruhm verhelfen. Also begann man, aufmerksamer als ein Rentner, versteckt hinter dem Vorhang, auf der Ausschau nach Falschparkern auf den Reisen die Fahrzeuggeschwindigkeit zu beobachten. Sobald die Windgeräusche zunahmen, schwenkte der Blick vom Seitenfenster zum „Cockpit“; zur Kommandozentrale des Fahrzeugs, zur Steuereinheit des Aggregats! Man fokussierte die Tachonadel, in der Hoffnung, dass die 220km/h-Marke nicht nur zu kosmetischen Zwecken diente. Während meine Mutter und meine Schwester zunehmend leiser wurden, konzentrierten mein Bruder und ich uns auf unseren Vater und versuchten seelischen Beistand in diesem harten und unerbittlichen Kampf „Mensch gegen Maschine“, „Pure Gewalt gegen einfache Physik“ oder „Linke Fahrspur gegen Rechte Fahrspur“ zu leisten. Wir sahen die sich ohnehin schon langsam bewegende Tachonadel in Zeitlupe. Ich hoffte darauf, bei unserem nächsten Treffen mit den Jungs sagen zu können „Mein Vater ist mit unserem Opel letztes ungefähr 203 km/h gefahren, vielleicht auch 204!“. Mit unseren schwach motorisierten Autos blieb mir jedoch dieser Wunsch stetig verwehrt. Doch wie sagt man so schön „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ – und so hoffte ich bei jeder Fahrt aufs neue, dass wir es vielleicht irgendwann auch in unserem imaginären „Vater-Auto“-Quartett auf die Top-Karte schaffen würden. 

Jahre später, als ich meine Ausbildung zum KFZ-Elektriker bei der damaligen DaimlerChrysler AG begann, hatten wir in unserer Ausbildungswerkstatt den einen oder anderen beachtlichen Mercedes-Benz zu Lehrzwecken zur Verfügung. Neben den Lehrwerkstatt-Geschichten unter den Azubis über die Performace unserer Fahrzeuge, wurden wir auch zunehmend mit den technischen Details von Autos im allgemeinen vertrauter. Azubis erzählten von den Autos ihrer Freunde, die AutoBild wurde in der Vesperpause zur Pflichtlektüre und man unterhielt sich über seine Traumautos. Der Kampf um die höhere Motorisierung wurde spätestens jetzt auf einem anderen Niveau fortgesetzt! Eines Tages, als wir in der Lehrwerkstatt einen Tag der offenen Tür hatten, stellten wir das beste Stück unseres Fuhrparks aus! Einen C215 – CL 600. Einer der Lehrmeister führte dabei die Laufruhe des 12-Zylinder-Aggregats vor, indem er bei laufendem Motor eine 1-Euro Münze auf die obere Motorabdeckung hochkant stellte. Trotz einer Leerlaufdrehzahl von ca. 600 Umdrehungen pro Minute blieb die Münze still wie angeklebt an der platzierten Stelle stehen. Obwohl genau dieser Motor beim anlassen, wenn auch nur sanft, erahnen ließ, welch brachiale Gewalten hier mit dem rechten Fuß gesteuert werden können, so war der Motor im gleichen Zug auch sanft und leicht wie ein Schmetterling. Beeindruckend, zumindest für mich!

Eine letzte Geschichte folgt aus meiner Zeit des Studiums. Da unsere Fachhochschule der Industrie, insbesondere der Daimler AG sehr nahe stand, hatten viele Dozenten neben dem fachlichen auch ein großes technisches Wissen. Im 7. Semester berichtete ein Dozent während der Vorlesung Fahrzeugtechnik von einer bereits Jahre zurückliegenden Pressefahrt einer neuen Mercedes-Benz S-Klasse. Damals, so sagte er, sollte ein neuer 600er vorgestellt werden und die Fachpresse durfte bereits zuvor mit dem Fahrzeug fahren. Da es sich bei dem gesamten Fahrzeug noch um einen Entwicklungsstand handelte, war wohl der letzte Reifegrad des Fahrzeugs noch nicht vollständig erreicht. Das Auto hatte angeblich an der neu eingeführten Getriebesteuerung einen Fehler, sodass das Fahrzeug nur in einem der höchsten Gänge anfahren konnte. Da der Fehler im Kombiinstrument nicht zur Anzeige gebracht wurde, führten die Fahrer ahnungslos ihre Testfahrt durch.

Das Ergebnis war höchste Achtung; einer der Testfahrer zollte seinen Respekt für die Getriebsteuerung, da die „Schaltungen“ ohne spürbare Unterbrechungen und Ruckeln vonstattengingen. Dieses Urteil war nur möglich, da das Fahrzeug aufgrund der potenten Motorisierung ausreichend Leistung und Drehmoment zur Verfügung stellen konnte! Meine lieben Leser, diese und viele andere kleinen Kurzgeschichten haben mich in meiner Begeisterung für Hubraum, Zylinder, Leistung und Drehmoment geprägt! Damit stand fest: Wir brauchten für die Rallye ein Auto mit einer überdimensionieren Motorisierung. ⇒ Suchergebnisse mit dem Filter Reglement, Vater und Sohn auf Mobile.de: 14

Der Wolf im Schafspelz

Nach einer kurzen Suche wurden wir fündig – es handelt sich um einen E430 Kombi (S210). Mit leichtem Gepäck bin ich über eine Mitfahrgelegenheit nach Thüringen gefahren und habe mir das Auto genauer angesehen. Das Fahrzeug hatte mir beim ersten Anblick unmissverständlich deutlich gemacht, es wäre nicht schon immer in diesem Zustand gewesen (Blogeintrag). Nun gut – dem gesamten Umstand geschuldet habe ich meinen inneren Kampf zugunsten dieses Angebots beendet. Die ersten Eindrücke vom Fahrzeug sind, vorsichtig gesagt, durchwachsen.

Ausstattung/Fahrzeugdaten:

  • V8-Benzin (279 PS)
  • Automatik
  • Standheizung
  • Parktronic
  • Alarmanlage
  • Xenon
  • Klimatisierungsautomatik
  • Regensensor
  • Spiegel automatisch abblendend
Zustand:

  • 8. Hand
  • 485.000 km
  • Schulnote: 4+
Mängelliste:

  • Roststellen rundum
  • Poltergeräusche vom Fahrwerk
  • Unsanft schaltendes Getriebe
  • Parktronic ohne Funktion
  • Standheizung ohne Funktion
  • Fensterheber hi-re ohne Funktion
  • Alarmanlage ohne Funktion
  • Klimaanlage vermutlich ohne Funktion
  • nur 1 Schlüssel verfügbar

Zugegebenermaßen würde ich mir für den Alltag ein Fahrzeug in einem definitiv besseren Zustand kaufen, aber Regeln existieren nun einmal, damit sie befolgt werden. Das Auto war für unsere Rallye hingegen perfekt! Dieses Auto wurde genau für diesen Zweck vor über 20 Jahren in Sindelfingen gebaut und einem glücklichen Kunden übergeben. Dieses Auto schreit förmlich nach einem Abenteuer dieses Ausmaßes! Genauso, wie ein Steinadler aus einem Zoo sich nach den grenzenlosen Weiten in den Rocky Mountains sehnt, möchte dieses Auto Teil unseres Abenteuers um die Ostsee werden. Unser alte „Dame“ möchte ein Teil unserer Vater und Sohn Geschichte sein und nicht weiter als Packesel für häusliche Baustellen zwischen Baumarkt und Eigenheim im Großstadt-Dschungel an den Ampeln von kleinen E-Autos belächelt werden.